Totgeglaubte leben länger: Die Entdeckung eines supercoolen Magneten
Forschungsbericht (importiert) 2013 - Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe
In der Verbindung YbNi4P2 wurde ein ferromagnetischer Phasenübergang bei einer extrem niedrigen Ordnungstemperatur von nur 0,15 K (−273°C) entdeckt. Die Eigenschaften dieses Phasenübergangs stehen im Widerspruch zu gängigen Theorien und belegen die Existenz eines ferromagnetischen Quantenkritischen Punktes. Dieser wurde bereits vor fast 40 Jahren diskutiert, seine Existenz galt aber in den letzten 15 Jahren als ausgeschlossen. Die Untersuchung von quantenkritischen Punkten ist nicht nur ein zentrales Thema der modernen Grundlagenforschung, sondern auch für technische Anwendungen relevant.
Von der Schneeflocke zum Ferromagnet
Winter. Es schneit. Eine Schneeflocke fällt auf die Hand, ein wundersamer, filigraner Stern. Sie spürt die Körperwärme, ihre Temperatur steigt, der filigrane Stern löst sich auf und verwandelt sich in einen einfachen Tropfen. Dieses Wunder ist nicht nur für Kinder faszinierend, es stellt auch für Physiker und Chemiker ein sehr interessantes Phänomen dar. In der Sprache der Wissenschaftler nennt man so einen Vorgang einen Phasenübergang: das System „Wasser” geht mit Änderung eines Parameters, hier die Temperatur T, von einem Zustand (oder „Phase”) mit einer wunderbaren Ordnung, der Schneeflocke, in einen neuen, ungeordneten Zustand über, hier die flüssigen Phase, der Tropfen. Die Welt, die wir erleben, aber noch viel mehr die Welten, die die Wissenschaftler untersuchen, zeigen eine Unmenge von stark oder weniger stark geordneten Gebilden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Phasenübergänge eine zentrale Rolle in der Physik und Chemie spielen und Gegenstand intensiver Forschung sind. Ein Phasenübergang, dem in unserer technischen Welt eine große Bedeutung zukommt, ist die Entstehung eines Permanentmagneten. In manchen Festkörpern, z. B. Eisen, trägt jedes Atom einen mikroskopischen Permanentmagnet mit sich, man nennt es das magnetische Moment. Bei sehr hohen Temperaturen ändern diese Magnete ständig die Richtung und in einer Momentaufnahme eines Stückes Eisen würden die Momente in alle möglichen Richtungen zeigen, sodass die magnetischen Felder, die sie aussenden, sich gegenseitig auslöschen. Kühlt man den Festkörper aber unter eine kritische Temperatur, die Curie-Temperatur TC genannt wird und z. B. für Eisen bei 772°C liegt, drehen sich die Momente alle in dieselbe Richtung. Die Magnetfelder der einzelnen Momente addieren sich zu einem starken Gesamtfeld, das Magnetisierung genannt wird und technisch genutzt werden kann, und das Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer den Bau Ihres Perpetumobil ermöglichte [1]. Diesen geordneten Zustand bezeichnet man als Ferromagnet (FM). Durch Anlegen eines äußeren Magnetfeldes kann man auch oberhalb von TC eine partielle Ausrichtung der Momente erreichen, weshalb dieser Zustand als Paramagnet (PM) bezeichnet wird [2].
Genau so einen ferromagnetischen Phasenübergang hat unsere Gruppe kürzlich in der Verbindung YbNi4P2 nachgewiesen [3,4]. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches; Ferromagnetismus wurde schon in mehr als tausend Verbindungen beobachtet. Bei genauerer Analyse aber ein erstaunliches Ergebnis: Wie weiter unten erklärt, dürfte es diese Art von Phasenübergang bei der extrem niedrigen Temperatur, wo er beobachtet wurde, gar nicht geben! Die Ordnungstemperatur TC liegt bei −273°C Celsius (oder 0,15 Kelvin auf der Temperaturskala der Physiker) und fast am absoluten Temperatur-Nullpunkt, der −273,15°C beträgt.
Ein supercooler Magnet: YbNi4P2
Die Verbindung YbNi4P2 wurde 1997 zum ersten Mal synthetisiert [5]; ihre Eigenschaften wurden jedoch bisher kaum untersucht, bis die Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden (MPI-CPfS) in der Lage waren, YbNi4P2 Kristalle in guter Qualität und ausreichender Größe für physikalische Untersuchungen herzustellen. Die wichtigen Akteure in dieser Verbindung sind die Ytterbiumatome (Yb), sie tragen ein magnetisches Moment. Die Nickel- (Ni) und die Phosphoratome (P) bilden lediglich die geeignete Umgebung. Alle Atome liegen in einer sich regelmäßig wiederholenden Anordnung vor, die als Kristallstruktur bezeichnet wird. In der Kristallstruktur von YbNi4P2 (Abb. 1) bilden die Yb-Atome Ketten: entlang der c-Richtung liegen sie direkt nebeneinander, während sie entlang der beiden anderen Richtungen a und b durch Ni- und P-Atome von einander getrennt sind. In Abbildung 1 ist das wichtigste Ergebnis der Untersuchungen gezeigt: dort ist die sogenannte magnetische Suszeptibilität entlang (χ' ǁ c) und senkrecht (χ' ⊥ c) zur Kettenrichtung als Funktion der Temperatur aufgetragen. Für die Messung von χ' wird das Material einem äußeren Magnetfeld H ausgesetzt und man misst die Magnetisierung M, also das zusätzliche Feld, welches durch die teilweise Ausrichtung der atomaren magnetischen Momente erzeugt wird.
Die Suszeptibilität χ' ist einfach das Verhältnis beider Felder: χ'=M/H. In Abbildung 1 ist ihr Verhalten über einen sehr großen T-Bereich gezeigt, die Daten reichen von 0,03 K (fast am absoluten Nullpunkt) bis zu 300K (nahe Raumtemperatur). In diesem Temperaturbereich ändert sich χ' sehr stark, um mehr als einen Faktor 1.000. Bei Raumtemperatur ist die Suszeptibilität klein, weil die thermische Bewegung eine stabile Ausrichtung der Momente verhindert. Diese thermische Bewegung nimmt mit fallender Temperatur ab, weshalb χ' gleichmäßig steigt. Dieses Verhalten belegt bereits die Existenz des magnetischen Moments am Yb-Atom. Unterhalb von 30 K wird der Verlauf von χ' ⊥ c zunächst flacher, bevor er dann zwischen 1 K und 0,15 K in die Höhe schießt, in diesem T-Bereich steigt χ' ⊥ c um mehr als einen Faktor 100. Dies ist ein eindeutiges Zeichen für die ferromagnetische Ordnung. Die Momente wollen sich von selbst quer zur Kettenrichtung stellen, deshalb reicht ein kleines äußeres Feld, um sie alle auszurichten und eine sehr hohe Magnetisierung zu erzeugen. Bei 0,15 K ist M etwa drei Mal grösser als das von außen angelegte Feld H.
Der Verlauf der Suszeptibilität macht aber einen wichtigen Unterschied zwischen dem Phasenübergang in der Schneeflocke und in YbNi4P2 deutlich. χ' steigt zwar mächtig an, aber immer kontinuierlich, ohne Sprünge. So ein Phasenübergang, bei dem sich die Ordnung gleichmäßig mit der Temperatur entwickelt, nennt man kontinuierlich und bezeichnet ihn als Phasenübergang zweiter Ordnung. Bei der Schneeflocke dagegen ist es so, dass selbst wenn die Temperatur nur einen winzigen Tick unterhalb bzw. oberhalb des Schmelzpunktes liegt, das gesamte „System” die vollständige Ordnung der Schneeflocke, bzw. die vollständige Unordnung des Wassertropfens besitzt. Der Übergang ist abrupt, beim Aufwärmen verweilt das System deshalb so lange am Schmelzpunkt, bis es sich vollständig von der Schneeflocke in Wasser verwandelt hat. So einen Phasenübergang nennt man diskontinuierlich und bezeichnet ihn als Phasenübergang erster Ordnung. Physiker zeichnen dafür eine Art Landkarte, die Phasendiagramm genannt wird. Darin wird der Zustand des untersuchten Festkörpers in Abhängigkeit der Parameter eingetragen. Die verschiedenen Phasen entsprechen unterschiedlichen Ländern in einer geographischen Karte, die Phasenübergänge entsprechen den Grenzen. Das Phasendiagramm von Wasser als Funktion von Temperatur T und Druck P ist in Abbildung 2(a) schematisch dargestellt. Die roten Linien markieren Phasenübergänge 1. Ordnung, blaue Linien Phasenübergänge 2. Ordnung. Bei Wasser ist der Phasenübergang von flüssig zu Gas (roter Pfeil) 1. Ordnung (genauso wie das Schmelzen), er verschwindet aber oberhalb einer kritischen Temperatur und wird dort ein Phasenübergang 2. Ordnung (blauer Pfeil).
Ein totgeglaubter alter Bekannter meldet sich wieder: der ferromagnetische quantenkritische Punkt
Der enorme, aber kontinuierliche Anstieg der magnetischen Suszeptibilität sowie weitere Ergebnisse beweisen eindeutig einen ferromagnetischen (FM) Phasenübergang 2. Ordnung bei TC=0,15 K in YbNi4P2. Aber warum ist diese Beobachtung so aufregend? Bei so tiefen Temperaturen wird es sicher keine Anwendung für diesen Ferromagneten geben! Dennoch ist gerade dieses tiefe TC der Grund der Aufregung. Um dies zu verstehen, müssen wir uns nochmal etwas allgemeiner mit Phasenübergängen befassen.
Bis vor etwa 10 Jahren wurden hauptsächlich Phasenübergänge untersucht, die bei endlicher Temperatur stattfinden, d. h. bei Temperaturen deutlich oberhalb des absoluten Nullpunktes. Diese Art von Phasenübergängen ist mittlerweile sehr gut verstanden und man hat dabei etwas Unerwartetes festgestellt: Trotz der völlig unterschiedlichen Arten von Systemen, in denen sie stattfinden, folgen Phasenübergänge sehr allgemein gültigen Mustern. Ein Grund dafür ist, dass das Verhalten an solchen Phasenübergängen im Wesentlichen durch thermische Bewegungen, z. B. der Atome oder der magnetischen Momente, bestimmt wird, die man als thermische Fluktuationen bezeichnet.
Seit etwa zwei Dekaden fragen sich aber Physiker, was passiert, wenn man die Ordnungstemperatur eines kontinuierlichen Phasenübergangs durch Manipulation an der Probe, z. B. durch chemische Veränderungen oder durch Anlegen von Druck, runter bis zum absoluten Nullpunkt treibt. Dort „sterben” die thermischen Fluktuationen aus, dafür kommt die Quantenphysik ins Spiel: Weil in der Quantenphysik jedes Objekt als Welle beschrieben wird, stehen z. B. die Atome in einem Festkörper selbst beim absoluten Nullpunkt nicht still, sondern bewegen sich. Diese Bewegungen nennt man Quantenfluktuationen und diese gewinnen nun einen entscheidenden Einfluss auf den Phasenübergang. Deshalb wird der Punkt, an dem die Ordnungstemperatur eines Phasenübergang 2. Ordnung den absoluten Nullpunkt erreicht, als Quantenkritischer Punkt (QKP) bezeichnet (Abb. 2(b)). Solche QKPe wurden tatsächlich realisiert und werden am MPI-CPfS intensiv erforscht. Man hat dort eine Vielzahl von sehr ungewöhnlichen Effekten beobachtet [6].
Die Geschichte des FM QKP ist dabei ein schönes Beispiel, wie wechselhaft die Entwicklung in der Physik verlaufen kann. In einer ersten bahnbrechenden Arbeit kam der Theoretiker J. Hertz 1976 [7] zu dem Schluss, dass sich die kritische Temperatur eines ferromagnetischen Phasenübergangs 2. Ordnung kontinuierlich bis zu T=0 verschieben lassen sollte (Abb. 2(b)). Erste experimentelle Ergebnisse und weitere theoretische Arbeiten schienen seine Berechnungen zu bestätigen, deshalb war die Existenz eines FM QKP mehr als zwanzig Jahre lang allgemein akzeptiert. Solche Quantensysteme lassen sich jedoch nicht exakt berechnen, deshalb behilft man sich mit vereinfachten Modellen. 1999 berechneten D. Belitz et al. [8] ein etwas genaueres Modell und kamen zu dem Schluss, das dieser FM QKP gar nicht existiert: Bevor TC den absoluten Nullpunkt erreicht, wechselt der Phasenübergang seinen Charakter von 2. zu 1. Ordnung (Wechsel von blauer zu roter Linie in Abb. 2(c)). Gleichzeitig verbesserten die Experimentatoren die Genauigkeit ihrer Messungen und beobachteten in der Tat diese Änderung von 2. zu 1. Ordnung. Die kritischen Quantenfluktuationen existieren aber nur für einen Phasenübergang 2. Ordnung, nicht für einen Phasenübergang 1. Ordnung, womit ein FM QKP ausgeschlossen schien. Dieser Standpunkt wurde in Folge durch weitere experimentelle und theoretische Ergebnisse untermauert. Deshalb war die am MPI-CPfS erfolgte Entdeckung eines FM Phasenübergangs 2. Ordnung in YbNi4P2 so nah am absoluten Temperatur-Nullpunkt eine riesige Überraschung. Durch teilweisen Austausch von Phosphor durch Arsen konnten die Forscher am MPI-CPfS das TC in der Legierung YbNi4(AsxP1-x)2 tatsächlich kontinuierlich auf null reduzieren (Abb. 2(d)) und damit die Existenz eine FM QKP experimentell belegen [4]. Warum der FM QKP Punkt in YbNi4P2 existiert, ist jetzt Gegenstand intensiver Diskussionen. Möglicherweise liegen die Ursachen in besonderen Eigenschaften dieser Verbindungen.
Aber sind solche Untersuchungen am Ende nur eine Spielwiese für esoterische Wissenschaftler? Durchaus nicht! In der Nähe eines QKP macht sich der Einfluss der Quantenfluktuationen bis zu sehr hohen Temperaturen bemerkbar. QKP werden deshalb als mögliche Ursache für die Entstehung von unkonventionellen supraleitenden Zuständen bei sehr hohen Temperaturen betrachtet. Diese Zustände ermöglichen z. B. einen verlustfreien Transport von elektrischer Energie und können deshalb technologisch von hoher Relevanz sein! Aber auch wenn ein verlustloser Transport von Elektrizität im Alltag ein kaum zu überschätzender Durchbruch wäre − das Perpetumobil von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer werden wir trotzdem nicht nachbauen können.