Komplexität in der Welt intermetallischer Phasen

Forschungsbericht (importiert) 2006 - Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe

Autoren
Makongo, Julien Pierre Amelie; Burkhardt, Ulrich; Prots, Yurii; Niewa, Rainer; Kreiner, Guido
Abteilungen
Anorganische Chemie (Prof. Dr. Rüdiger Kniep)
MPI für Chemische Physik fester Stoffe, Dresden
Zusammenfassung
Komplexe Intermetallische Phasen sind Verbindungen mit Merkmalen, die sie von einfachen Metallen unterscheiden. Große Elementarzellen mit teilweise mehr als tausend Atomen, ein hierarchisch strukturierter Aufbau und inhärente Fehlordnung sind wesentliche Charakteristika. Verursacht wird all dies durch eine Cluster-Substruktur, die sowohl Nahordnung, Fernordnung als auch das physikalische Verhalten prägt.

Nahezu alle industriell hergestellten metallischen Werkstoffe basieren auf einfachen Legierungen mit ein oder zwei Elementen als Hauptkomponenten. Durch Legieren mit geringfügigen Mengen zusätzlicher Elemente und geeignete Temperatur-Zeit-Behandlungen lässt sich ein beeindruckendes Spektrum von Eigenschaften einstellen. Neue Technologien verlangen jedoch die Entwicklung metallischer Werkstoffe mit extremen Eigenschaften und ungewöhnlichen Eigenschaftskombinationen. Zwei wesentliche Strategien werden hier verfolgt: die Optimierung bekannter Legierungen und die Entwicklung neuartiger Werkstoffe basierend auf intermetallischen Phasen [1]. Dabei handelt es sich um chemische Verbindungen mit vollständig neuen Eigenschaften im Vergleich zu den metallischen Elementen als Ausgangsstoffe. Beispielsweise zeichnen sich Werkstoffe auf der Basis von Titanaluminiden [2] durch geringes Gewicht, hohe Festigkeit, niedrigen Verschleiß und Korrosionsbeständigkeit bei hohen Temperaturen aus. Dieser Ansatz scheint besonders viel versprechend, da es mehr als eine halbe Millionen Möglichkeiten gibt, drei metallische Elemente aus dem Periodensystem zu kombinieren. Darüber hinaus können sich intermetallische Phasen in unterschiedlichen Verhältnissen der Elemente und Kristallstrukturen bilden, sodass mehrere Millionen Verbindungen binärer und ternärer Natur zu erwarten sind. Bis Heute sind jedoch nur ca. 50.000 intermetallische Phasen bekannt. Davon kristallisiert die große Anzahl mit einfachen Kristallstrukturen von durchschnittlich nicht mehr als 24 Atomen pro Elementarzelle. Im Vergleich zu vielen anorganischen und organischen Verbindungen, z. B. Zeolithe, Polymere oder Proteine, erscheint ihr struktureller Aufbau einfach. Viele intermetallische Phasen zeigen trotzdem beträchtliche Komplexität, die durch Homogenitätsbereiche, d. h. Abweichungen von der idealen Zusammensetzung, durch Defekte von der Nano- bis zur Mikrostruktur reichend, und dem fehlendem konzeptionellen Verständnis der chemischen Bindung dieser Verbindungsklasse verursacht wird.

Seit langem sind auch Ausnahmen von der Regel bekannt, dass intermetallische Phasen einfache Kristallstrukturen besitzen. So wurde bereits 1923 von Linus Pauling [3] über NaCd2 berichtet, eine intermetallische Phase mit extrem komplexen Beugungsmuster. Erst sehr viel später konnte ihre Kristallstruktur mit 1192 Atomen in der kubisch-flächenzentrierten Elementarzelle aufgeklärt werden. Ein strukturell verwandtes und besser untersuchtes Beispiel ist β-Mg2Al3 [4], eine Phase im technisch wichtigem Al-Mg-System mit 1168 Atomen in der kubisch-flächenzentrierten Elementarzelle. Da die Kristallstruktur stark fehlgeordnet beschrieben wurde − ein beträchtlicher Anteil der kristallographischen Lagen sind teil- und mischbesetzt − wurde β-Mg2Al3 mit modernsten Methoden erneut [5] untersucht. Die Fehlordnung der β-Phase lässt sich nach diesen Untersuchungen durch eine statistische Anordnung von zwei unterschiedlichen, nahezu kugelförmigen Baueinheiten mit ca. 10×10-10 m Durchmesser in der großen Elementarzelle beschreiben. Bei ca. 240 °C ordnen die Baueinheiten unter Umwandlung beim Abkühlen in eine Raumtemperaturphase rhomboedrischer Symmetrie aus. Mittlerweile sind einige Hundert strukturell komplexe Verbindungen bekannt und werden unter dem Begriff „Komplexe Intermetallische Phasen“ bzw. in der englischsprachigen Literatur unter „Complex Metallic Alloy Phases“ zusammengefasst. Die Anzahl Komplexer Intermetallischer Phasen wächst stetig. Es zeigt sich, dass diese Verbindungen häufig vorkommen – sie sind nur in früheren Untersuchungen auf Grund unzureichender Methoden der Synthese und Charakterisierung übersehen worden. Da quasikristalline Verbindungen keine Translationsperiodizität aufweisen, d. h. unendlich große Elementarzellen besitzen, werden sie ebenfalls zu dieser Verbindungsklasse gezählt.

Komplexe Intermetallische Phasen weisen einige charakteristische Merkmale [5] auf, die sie von den einfachen Metallen unterscheiden:


  • große Elementarzellen teilweise mit mehr als tausend Atomen bzw. im Fall der Quasikristalle eine unendlich große Elementarzelle

  • hierarchischer Aufbau der Strukturen

    • eine lokale Ordnung, die mit wenigen Typen von Koordinationspolyedern trotz großer Anzahl von Atomen in der kristallographisch kleinsten Einheit beschreibbar ist

    • große Baueinheiten, genannt Cluster

    • die Zentren der Cluster definieren Substrukturen, die oft mithilfe von Raumparkettierungen beschreibbar sind, d. h. der Raum kann ohne Lücken und ohne Überlappung in Zellen mit Clustern auf den Eckpunkten aufgeteilt werden

  • sehr häufig wird eine inhärente Fehlordnung beobachtet, die zur Stabilisierung der Phase notwendig ist.

Ein Beispiel für eine Komplexe Intermetallische Phase mit 1088 Atomen in der Elementarzelle ist (Ga,Zn)171.4 Mg100.6 [6] (Abb. 1).

Die Verbindung bildet sich durch Aufschmelzen der Elemente im molaren Verhältnis Ga : Zn : Mg = 19 : 37 : 44 nach geeigneter Wärmebehandlung. Von den 149 kristallographisch unterschiedlichen Positionen in der Kristallstruktur sind 54 mit Mg-Atomen besetzt, während Ga- und Zn-Atome die verbleibenden Positionen statistisch verteilt besetzen. Die Koordinationspolyeder um die Mg- Atome lassen sich drei Polyedertypen mit 14, 15 oder 16 Atomen als nächste Nachbarn zuordnen, während die Ga- und Zn-Atome ikosaedrisch koordiniert sind. Als Baueinheiten bilden sich Pauling Triakontaeder aus jeweils 44 Atomen. Dieser Cluster lässt sich als konzentrische Abfolge von Polyedern ikosaedrischer Symmetrie beschreiben: ein Ikosaeder aus 12 Ga- bzw. Zn- Atomen mit einer Leerstelle im Zentrum ist umgeben von einem Pentagondodekaeder aus 20 Mg-Atomen, das umhüllt ist von einem großen Ikosaeder aus 12- Ga bzw. Zn-Atomen. Eine weitere Hülle aus 60 Ga- bzw. Zn-Atomen schließt sich in Form eines Fußballs an. Die resultierende Baueinheit aus 104 Atomen heißt Bergman Cluster.

Verbindet man die Zentren der Bergman Cluster, so erhält man eine Raumparkettierung (Abb. 2) aus vier unterschiedlichen Zellen, A, B, C und D. Diese werden durch drei unterschiedliche Flächen X, Y, und Z sowie durch zwei unterschiedliche Kanten b, c begrenzt. Die Bergman Cluster in der Kristallstruktur sind entlang lokaler 2- und 3-zähliger Drehachsen – das sind Achsen, die Symmetrieoperationen von Drehungen um 180° bzw. 120° beschreiben – miteinander verbunden. Alle Zellkanten b und c verlaufen parallel zu diesen Drehachsen. Solche Raumparkettierungen werden Canonical cell tiling (CCT) [7] genannt und besitzen die Eigenschaft, ikosaedrische Cluster mit hoher Raumerfüllung zu packen.

Die allgemeinen Konstruktionsregeln solcher CCTs erlauben die Modellierung von Kristallstrukturen mit extrem großen Elementarzellen, indem die Ecken mit Clustern ikosaedrischer Symmetrie „dekoriert“ werden. Im Grenzfall einer unendlich großen Elementarzelle erhält man ein Modell einer quasikristallinen Struktur mit ikosaedrischer Orientierungsfernordnung (Abb. 3). Trotz 20-jähriger Forschung ist es bisher nicht gelungen, die Struktur eines ikosaedrischen Quasikristalls vollständig aufzuklären. CCTs, dekoriert mit ikosaedrischen Clustern, sind aber gute Modelle zur Beschreibung idealisierter quasikristalliner Strukturen ohne Berücksichtigung von Fehlordnung. So wurde gezeigt, dass lokale Umgebungen in der quasikristallinen Verbindung fci-Ho9Mg26Zn65 [8] bis zu einem Radius von 30×10-10 m durch CCT-Modelle hervorragend beschrieben werden.

Fehlordnungsphänomene spielen eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung Komplexer Intermetallischer Phasen. Im Fall von (Ga,Zn)171.4Mg100.6 sind alle Zentren der ikosaedrischen Koordinationspolyeder nach dem Zufallsprinzip entweder mit einem Ga- oder einem Zn-Atom (Substitutionsfehlordnung) besetzt. Das Verhältnis von Ga zu Zn ist jedoch fest vorgegeben. Empirisch wurde beobachtet, dass das Pauling Triakontaeder zu seiner Stabilisierung ca. 92 Valenzelektronen benötigt. Mit 3 und 2 Valenzelektronen pro Atom für Ga bzw. Zn und Mg würde ein Pauling Triakontaeder der Zusammensetzung Zn24Mg20 bzw. Ga24Mg20 zu wenig (88) oder zu viele (112) Valenzelektronen besitzen. Entsprechende Verbindungen ausschließlich mit Zn oder Ga konnten daher nicht synthetisiert werden. Dieser Fall belegt eine Substitutionsfehlordnung inhärenter Natur.

Ein weiterer Unterschied zu einfachen Metallen liegt darin, dass sich Komplexe Intermetallische Phasen in den Zustandsdiagrammen nahe definierter Zusammensetzungen häufen. Anstelle von einfachen eutektischen Systemen mit ein oder zwei kongruent schmelzenden Verbindungen beobachtet man komplex aufgebaute Zustandsdiagramme – eine Herausforderung an die Synthese. Ein Beispiel mit insgesamt 13 intermetallischen Phasen ist das binäre System Mg-Pd [9]: Mg(α), Mg6Pd (β), Mg57Pd13 (γ), Mg56.4Pd13.5 (δ), Mg306Pd77 (ε), Mg78.5Pd21.5 (ζ), Mg3Pd (η), Mg5Pd2 (θ), Mg2Pd (ι), MgPd (κ), Mg0.9Pd1.1 (λ), Mg3Pd5 (μ), MgPd2 (ν), MgPd3 (ξ) und (Pd) (ο). Der magnesiumreiche Teil des Zustandsdiagramms (Abb. 4) enthält die Komplexen Intermetallischen Phasen β, γ, δ, ε und ζ, deren Kristallstrukturen aus einem ikosaedrischen Cluster von 55 Atomen, dem Mackay Ikosaeder, aufgebaut sind. Dieses lässt sich ebenfalls als eine konzentrische Abfolge von Polyedern beschreiben: ein Ikosaeder aus 12 Mg- Atomen gefüllt mit einem Pd-Atom ist umgeben von einem Ikosidodekaeder aus 30 Mg-Atomen und einem großen Ikosaeder aus 12 Pd bzw. Mg- Atomen. Im Fall der β-Phase mit 396 Atomen pro Elementarzelle durchdringen sich die Mackay Ikosaeder gegenseitig, während die Kristallstrukturen der γ, δ, ε und ζ Phase als Packungen von Mackay Ikosaedern beschrieben werden können.

Die Phasen bilden sich in einem extrem schmalen Konzentrationsbereich des Zustandsdiagrams von Δx ≈ 3 At.%. Während eine geringfügige Änderung der Zusammensetzung wenig im Fall einfacher Legierungen bewirkt, führt dies bei Komplexen Intermetallischen Phasen oftmals zur Bildung einer neuen Phase. Dies lässt sich wiederum mit der Stabilität der Cluster begründen. Eine geringfügige Veränderung der Zusammensetzung kann wegen der Inertheit des Clusters zu merklichen Änderungen im Bereich zwischen den Clustern führen. Im Fall der γ-Phase entspricht eine 1 At.%-ige Änderung im Gehalt einer von ca. 5 At.% im Bereich zwischen den Clustern. Dies induziert die Bildung einer neuen Phase, deren Kristallstruktur sich ebenfalls als Packung von Mackay Ikosaedern beschreiben lässt.

Ungewöhnliche Eigenschaftskombinationen, die von einfachen Metallen nicht bekannt sind, konnten an einigen Komplexen Intermetallischen Phasen beobachtet werden – beispielsweise schlechte elektrische Leitfähigkeit verbunden mit für Metalle charakteristischem plastischen Verhalten [10]. Als Erklärung wurde angeführt, dass die Cluster neben der Periodizität bzw. Quasiperiodizität eine weitere Kohärenzlänge als physikalische Längenskala induzieren. Jedoch sind bisher zu wenig experimentelle Daten zu physikalischen Eigenschaften dieser Verbindungsklasse bekannt, um eine eindeutige Aussage zu treffen. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass große Einkristalle auf Grund der komplexen Phasenreaktionen schwierig zu züchten sind [5]. Das Network of Excellence „Complex Metallic Alloys“ der europäischen Kommission [11], in dem mehr als 25 europäische Institute integriert sind, hat sich daher als Aufgabe gestellt, Komplexe Intermetallische Verbindungen in allen Aspekten detailliert zu untersuchen und diese als potenzielle Werkstoffe zu etablieren.

Originalveröffentlichungen

1.
Sauthoff, G.:
Intermetallics
Wiley-VCH, Weinheim (1995).
2.
Dietrich, M. (Hrsg.):
Titan-Aluminid-Legierungen – eine Werkstoffgruppe mit Zukunft.
Projektträger Neue Materialien und Chemische Technologien, Forschungszentrum Jülich GmbH (2006).
3.
Pauling, L.:
The crystal structure of magnesium stannide.
The Journal of the American Chemical Society 45, 2777-2780 (1923).
4.
Samson, S.:
The crystal structure of the phase β-Mg2Al3.
Acta Crystallographica 19, 401-413 (1965).
5.
Urban, K. and M. Feuerbacher
Structurally complex alloy phases.
Journal of Non-Crystalline Solids 334&335, 143-150 (2004).
6.
Kreiner, G.:
Towards realistic quasiperiodic structures: modelling, synthesis and structure of (Ga,Zn)175-δMg97+δ – a large 3/2-2/1-2/1 Fibonacci approximant.
Journal of Alloys and Compounds 338, 261-273 (2002).
7.
Henley, C. L.:
Cell geometry for cluster-based quasicrystal models.
Physical Review B 43, 993-1020 (1991).
8.
Brühne, S., E. Uhrig, G. Kreiner and W. Assmus
Local atomic three-dimensional real-space structural analysis of icosahedral Mg–Zn–RE (RE = Y or Ho) alloys: strategy, method and models.
Philosophical Magzine 86, 463-468 (2006).
9.
Makongo, J. P. A., V. Prots, U. Burkhardt, R. Niewa, C. Kudla and G. Kreiner
A case study of complex metallic alloy phases: structure and disorder phenomena of Mg–Pd compounds.
Philosophical Magzine 86, 427-433 (2006).
10.
Hans-Rainer Trebin (Hrsg.):
Quasicrystals. Structure and Physical Properties.
Wiley-VCH, Weinheim (2003).
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