ZrAs1,4Se0,5 – Ein nicht-magnetisches Kondo-System mit den Eigenschaften eines einfachen Metalls

Forschungsbericht (importiert) 2004 - Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe

Autoren
Niewa, Rainer; Schmidt, Marcus; Cichorek, Tomasz; Auffermann, Gudrun; Ramlau, Reiner; Prots, Yurii; Schmidt, Ulrike; Völzke, Anja; Schulze, Katja; Burkhardt, Ulrich; Borrmann, Horst; Cardoso-Gil, Raúl; Schnelle, Walter; Schlechte, Andreas; Steglich, Frank; Kniep, Rüdiger
Abteilungen
Anorganische Chemie (Prof. Dr. Rüdiger Kniep)
MPI für Chemische Physik fester Stoffe, DresdenFestkörperphysik (Prof. Dr. Frank Steglich)
MPI für Chemische Physik fester Stoffe, Dresden
Zusammenfassung
ThAsSe und UAsSe zählen zu den wenigen Beispielen für Verbindungen mit nicht-magnetischem Kondo-Effekt. Zum besseren Verständnis dieses Verhaltens wurden an einer im gleichen Strukturtyp kristallisierenden Verbindung des Systems Zr–As–Se aufwändige Untersuchungen zur chemischen Zusammensetzung, Kristallstruktur und elektrischem Widerstand bei tiefen Temperaturen durchgeführt. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass das ungewöhnliche Verhalten von ZrAs1,4Se0,5 auf dynamischen Phänomenen in der Anionenteilstruktur beruhen könnte.

Die physikalischen Eigenschaften einfacher Metalle sind wohlverstanden. Sie können jedoch bei Anwesenheit schon geringer Konzentrationen gewisser magnetischer Verunreinigungen anomales Verhalten aufweisen. Während beispielsweise der elektrische Widerstand normalleitender Metalle gewöhnlich mit fallender Temperatur monoton abnimmt und bei tiefer Temperatur konstant wird, durchläuft der Widerstand eines solchen Metalls in Gegenwart von geringen Konzentrationen magnetischer, so genannter Kondo-Verunreinigungen, ein flaches Minimum bei tiefen Temperaturen. Diese Widerstandsanomalie weist eine starke Abhängigkeit vom magnetischen Feld auf und spiegelt die ungewöhnliche Natur der Streuung der Leitungselektronen am Spin der magnetischen Verunreinigungen wider (Kondo-Effekt). Ähnliche Kondo-artige Anomalien im elektrischen Widerstand werden bisweilen auch in unmagnetischen metallischen Gläsern beobachtet und dort auf die Streuung von Leitungselektronen an strukturellen Gitterdefekten zurückgeführt, die sich durch ein System von zwei Energieniveaus (Two-Level-Systems, TLS) charakterisieren lassen [1,2]. Die einfachste Realisierung eines TLS erfolgt durch quantenmechanisches Tunneln eines Teilchens zwischen den Zuständen eines Doppelmulden-Potenzials, wie sie in Gläsern existieren. Formal koppelt ein solches TLS ähnlich an das Leitungselektronen-System an wie der lokale Spin einer Kondo-Verunreinigung. Deshalb kann bei tiefen Temperaturen ein zusätzlicher, beim Abkühlen anwachsender Widerstand auftreten, der allerdings durch magnetische Felder kaum geändert wird. Obwohl der Einfluss von Tunnelvorgängen auf die physikalischen Eigenschaften von dielektrischen Gläsern verstanden ist, gibt es in metallischen Gläsern bisher keine überzeugenden Beispiele für Wechselwirkungen der TLS mit den Leitungselektronen. Unter diesem Gesichtspunkt sind jüngst einige Arsenid-selenide [3] in den Fokus der Forschung gerückt, da sie in der Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstandes eine Kondo-artige Anomalie zeigen, die jedoch im Gegensatz zum Kondo-Effekt weder durch äußere Magnetfelder noch durch äußere Drücke zu beeinflussen ist. Die Tatsache, dass in diesen kristallinen Systemen tatsächlich TLS existieren, wird aus „glasartigen“ Temperaturabhängigkeiten der thermischen Leitfähigkeit und der spezifischen Wärme geschlossen. Allerdings zeigt der elektrische Widerstand dieser Verbindungen (ThAsSe und UAsSe) ein anormales Verhalten bei höheren Temperaturen [3], dessen Ursache noch nicht endgültig aufgeklärt ist und das die Interpretation der Tieftemperaturdaten komplizieren kann. Um die Existenz einer Kondo-artigen Streuung von Leitungselektronen an TLS ohne solche störenden Einflüsse überprüfen und gegebenenfalls die zugrunde liegenden Mechanismen verstehen zu können, wurden in dieser Studie Einkristalle eines ebenfalls im PbFCl-Typ kristallisierenden Zirkonium-arsenid-selenids untersucht [4,5].

Wegen der thermochemischen Eigenschaften ternärer Verbindungen des Systems Zr–As–Se, die durch hohe Selen- und Arsen-Partialdrücke unterhalb der Schmelztemperaturen charakterisiert sind, und der gleichzeitig bestehenden Möglichkeit, leicht flüchtige Iodide des Zirkoniums zu bilden, sollte der Chemische Transport eine bevorzugte und geeignete Methode zur Kristallisation dieser Verbindungen darstellen. Insbesondere für Verbindungen, die sich beim Aufschmelzen zersetzen bzw. Phasentransformationen durchlaufen oder am Schmelzpunkt hohe Zersetzungsdrücke aufweisen, ist der Chemische Transport eine Alternative zur Kristallzüchtung aus der Schmelze. Der Chemische Transport ist dadurch charakterisiert, dass ein fester oder flüssiger Stoff mit einem gasförmigen Transportmittel in heterogenen Reaktionen unter Bildung von gasförmigen Spezies reagiert, die nach Materialtransport zur Rückbildung führen. Der Potenzialgradient als Triebkraft für den Materialtransport zwischen Auflösungs- und Abscheidungsseite wird in der Regel durch Temperaturunterschiede erreicht. Ausgehend von mikrokristallinen Pulverproben erfolgte die Kristallisation des Arsenid-selenids durch exotherme Transportreaktion mit Iod von 1123 K (Quelle) nach 1223 K (Senke) in evakuiert abgeschmolzenen Quarzglasampullen mit verschlossenen Glaskohlenstoffinlays.

Die erhaltenen Kristalle (Abb. 1a) wurden mit Elektronenstrahl-Mikroanalyse, wellenlängendispersiver Röntgenspektroskopie (WDXS), Transmissionselektronenmikroskopie, Röntgenbeugung am Einkristall und am Pulver sowie durch chemische Analysen mit der ICP-OES (Inductively-Coupled-Plasma–Optical-Emission-Spectrometry)-Methode umfassend charakterisiert. Ein Teil eines ausgewählten Einkristalls, welcher die Basis für alle durchgeführten Untersuchungen mit Ausnahme der chemischen Analyse bildete, wurde planparallel zu einer gut ausgebildeten Prismenfläche eingebettet und metallographisch bearbeitet. Zur quantitativen Analyse wurde die WDXS unter Verwendung der jeweiligen Elementstandards eingesetzt. Die Quantifizierung erfolgte anhand der jeweiligen Beiträge der charakteristischen Röntgenstrahlung der einzelnen Elemente. Es konnte gezeigt werden, dass der untersuchte Kristall chemisch homogen ist, keine Bestandteile des Transportmittels enthält und Silizium lediglich in Spuren enthalten ist. Die an 10 Messpunkten des Einkristalls bestimmten Massenanteile der Elemente und ihre Standardabweichungen betrugen für Zr: 34,69±0,04 At.%, für As: 48,51±0,05 At.% und für Se: 16,80±0,02 At.%. Daraus resultiert die chemische Zusammensetzung Zr1,000(1)As1,398(1)Se0,484(1).

Weitere Untersuchungen der Elementzusammensetzung der transportierten Verbindung wurden an mehreren Einkristallen mit der ICP-OES-Methode durchgeführt. Dazu wurden in Voruntersuchungen an mikrokristallinem Material zunächst geeignete Aufschlussreagenzien und Aufschlussbedingungen zur präzisen und simultanen Bestimmung von Zirkonium, Arsen und Selen mit dem ICP-Spektrometer ermittelt. Die Einkristalle (zwischen 2 und 10 mg) lösen sich in einem Gemisch von konz. HNO3 (2 mL)/konz. HF (20 μL pro 5 mg Einwaage). Die HF-Menge zum vollständigen Aufschluss der Proben ist dabei so gering, dass die Messungen mit einer Anordnung konzentrischer Glaszerstäuber, Twister-Zyklon-Glaszerstäuberkammer und einer Quarzfackel mit Aluminiumoxidrohr zur Erzielung einer höheren Messgenauigkeit durchgeführt werden konnten. Die Kalibrierung erfolgt mit einer matrixangepassten Zr-, As-, Se-Standardreihe (je 0 – 50 mg/L). Spektrale Interferenzen treten nicht auf. Die Ergebnisse zeigen, dass die Arsen- und Selen-Gehalte der insgesamt fünf untersuchten Einkristalle invers korreliert sind, von Einkristall zu Einkristall jedoch lediglich in einem engen Konzentrationsbereich variieren. Die ermittelte Summenformel der ternären Verbindung ergibt sich bei Normierung auf Zirkonium (1,0) unter Berücksichtigung aller fünf Einkristalle zu Zr1,000(7)As1,38(1)Se0,49(1) und stimmt mit dem über WDXS an einem anderen Kristallindividuum bestimmten Wert sehr gut überein.

Die Strukturaufklärung durch Röntgenbeugung am Einkristall (P4/nmm, a = 374,69(1) pm, und c = 807,16(1) pm) führt zur Summenformel ZrAs1,40Se0,50 bzw. ZrAs0,90(1)(Se0,50(1)As0,50) und trifft damit sehr genau die Ergebnisse der WDXS- und ICP-OES-Analysen. Es scheint also so zu sein, dass die Summenformel der ternären Verbindung auch ihrem Existenzbereich entspricht und nicht als Zufallsergebnis einer Substitutionsreihe zu werten ist. Die ternäre Verbindung kristallisiert im UPS-Zweig des PbFCl-Aristotyps, einer Substitutionsvariante des Fe2As-Strukturtyps, der auch als ZrSiS Strukturtyp bezeichnet wird. Dabei besetzen die größeren Anionen typischerweise eine 2c -Lage und die kleineren Anionen die 2a -Lage. Prinzipiell können sich die Anionen auf beiden Lagen im Sinne einer Substitution verteilen. In ZrAs0,90(1)(Se0,50(1)As0,50) ergibt sich nun eine 1:1-Besetzung der 2c -Lage mit Selen und Arsen und eine Unterbesetzung der 2a Lage mit As zu 90 % (Abb. 1b). Eine genauere Betrachtung der Auslenkungsparameter des Arsens zeigt eine größere laterale Auslenkung verglichen mit der Auslenkung in Richtung [001]. In Übereinstimmung mit der Tendenz von Arsen zur Ausbildung von homoatomaren Bindungen kann dies als Anzeichen zur Bildung kovalenter As–As Bindungen unter Ausbildung polymerer Einheiten interpretiert werden. Sowohl diese Situation wie auch die 1:1-Besetzung der Lage 2c könnten zu Überstrukturen oder lokaler Ordnung in der Realstruktur führen, die mit Röntgenbeugungsmethoden jedoch kaum zu identifizieren sein sollten.

Zur hochauflösenden Elektronenmikroskopie (HRTEM) und Elektronenbeugung bei T = 293 K wurden Teile des charakterisierten Einkristalls durch Zerreiben weiter zerkleinert. Es gelang, Mikrokristallite in den Orientierungen [001], [100] und [110] zu beobachten. In den HRTEM-Abbildungen konnte jedoch eine mögliche Ordnung der As-Atome und Leerstellen auf der 2a-Lage bzw. der As- und Se-Atome auf der 2c-Lage nicht nachgewiesen werden (Abb. 2a).

In [001]-Orientierung hingegen (Abb. 2b) weisen die Elektronenbeugungsdiagramme auf Ordnungsphänomene hin. Neben den Bragg-Reflexen sind extrem schwache, diffuse Satellitenreflexe G ± q1 und G ± q2 zu erkennen. Sie umgeben die verbotenen Reflexe G = [hk0]*, h + k ungerade, und werden durch die Modulationsvektoren q1 = γ∙a* und q2 = γ∙b* mit γ ≈ 0,14 beschrieben. Wegen des diffusen Charakters der Satellitenreflexe ist γ nicht exakt zu bestimmen; es dürfte sich jedoch um eine inkommensurable Modulation handeln. Ein sehr ähnliches Bild (mit gleichen q1, q2 und γ) wurde kürzlich für ThAsSe bei Temperaturen zwischen 30 K und 100 K beschrieben [6] und mit einer zwei-dimensional ferngeordneten As–As-Dimerisierung in den zu (001) parallelen Netzen in Zusammenhang gebracht. Im Falle von ZrAs1,40Se0,50 ist Ausordnung (Bindungsbildung) sowohl in den As-Schichten (2a-Lage), als auch in den As-Se-Schichten (2c-Lage) möglich. Erste Versuche, die sehr schwachen Beugungseffekte durch Verwendung eines LN2-Kryohalters zu verstärken, führten nicht zum Erfolg. Es ist geplant, aus den größten verfügbaren ZrAs1,40Se0,50-Einkristallen massive, vororientierte Präparate herzustellen und die elektronenmikroskopischen Untersuchungen zu vertiefen.

ZrAs1,40Se0,50 ist diamagnetisch und mit den aus dem Sommerfeld-Koeffizienten von 1,7 mJ K–2mol–1 (aus Wärmekapazitätsmessungen) sowie der Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstandes in [100] abgeleiteten Eigenschaften ein gewöhnliches Metall (Abb. 3a).

Das Widerstandsverhalten steht in guter Übereinstimmung mit dem Bloch-Grüneisen-Modell und einer geringen Korrektur für s-d-Band- Elektronenstreuung. Eine genauere Betrachtung der erhaltenen Ergebnisse für ρ(T) zeigt einen zusätzlichen Term, welcher nicht durch hohe magnetische Felder beeinflusst wird. Der Einschub in Abbildung 3b zeigt die relative Änderung des Widerstandes bezogen auf den Wert bei 2 K für B = 0 T und B = 9 T. Sehr ähnliches Verhalten wird für die ebenfalls im PbFCl-Typ kristallisierende Th-Verbindung beobachtet [3], sodass der ungewöhnliche Streueffekt in ZrAs1,4Se0,5 wahrscheinlich ebenfalls durch nicht-magnetische Wechselwirkungen zwischen Leitungselektronen und strukturellen TLS hervorgerufen wird. Im Gegensatz zu ThAsSe liegen in ZrAs1,4Se0,5 jedoch metallische Eigenschaften ohne jede Anomalie bei höheren Temperaturen vor. Die Ergebnisse der Strukturuntersuchungen lassen vermuten, dass das ungewöhnliche Verhalten von ZrAs1,4Se0,5 auf dynamischen Phänomenen in der Anionenteilstruktur beruhen könnte. Hierzu sollen weitergehende Studien von Realstruktur und Einfluss auf TLS-Eigenschaften tiefere Einblicke in den Mechanismus dieses Effektes liefern.

Originalveröffentlichungen

1.
Zawadowski, A.
Kondo-like State in a Simple Model for Metallic Glasses
Physical Review Letters 45 211 (1980)
2.
Vladar, K. and A. Zawadowski
Theory of the interaction between electrons and the two level system in amorphous metals, I-III
Physical Review B 28 1564-1581, 1582-1595, 1596-1612 (1983)
3.
Cichorek,T., A. Sanchez, P. Gegenwart, A. Wojakowski, Z. Henkie, G. Auffermann, F. Weickert, S. Paschen, R. Kniep and F. Steglich
Two-Channel Kondo Effect in Glass-Like ThAsSe
cond-mat/0502057, 2005; Physical Reviev Letters 94 >>236603-1 -236603-4.
4.
Schmidt, M., T. Cichorek, R. Niewa, A. Schlechte, Yu. Prots, F. Steglich and R. Kniep
Crystallographic disorder and electron scattering on structural two-level systems in ZrAs1.4Se0.5
cond-mat/0504485, 2005; Journal of Physics Condensed Matter, im Druck.
5.
Schlechte, A., M. Schmidt, T. Cichorek, P. Simon, Yu. Prots, Th. Doert, R. Niewa, F. Steglich und R. Kniep
Ordnung und Unordnung in Phasen vom PbFCl-Typ im System Zr-As-Se
Zeitschrift für Kristallographie Suppl. 22 173-173 (2005).
6.
Withers, R.L., R. Vincent and J. Schoenes
A low-temperature electron diffraction study of structural disorder and its relationship to the Kondo effect in ThAsSe
Journal of Solid State Chemistry 177 701-708 (2004).
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