Elektronenautobahnen

Forschungsbericht (importiert) 2024 - Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe

Autoren
Goodge, Berit H.
Abteilungen
Abteilung Physik der Quantenmaterialien, MPI-CPfS (Minerva-Gruppe)
Zusammenfassung
Supraleitung bietet revolutionäre technologische Möglichkeiten und ein faszinierendes Rätsel für unser grundlegendes Verständnis der Materialphysik. Die jüngste Verwirklichung einer jahrzehntealten Vorhersage für nickelbasierte Supraleiter könnte wichtige Anhaltspunkte dafür liefern, wie die Supraleitung bei relativ hohen Temperaturen stabilisiert werden kann. Dort wäre sie technologisch am nützlichsten. Unsere Gruppe kombiniert interdisziplinäre experimentelle Ansätze in einem globalen Kooperationsnetzwerk, um Nickelat-Supraleiter zu erforschen. Vielleicht entdecken wir so auch neue, vielversprechende Verbindungen.

Wie wäre es, wenn wir neue Werkstoffe wie Infrastruktur entwerfen könnten: mit sorgfältig auf bestimmte Anwendungen optimierten Eigenschaften, basierend auf atomaren Bausteinen aus häufig vorkommenden Elementen? Dies ist das Ziel von Materialdesign, einem interdisziplinären wissenschaftlichen Unterfangen, das auf einer engen Zusammenarbeit zwischen theoretischen Vorhersagen und der experimentellen Entdeckung und Untersuchung neuer synthetischer Verbindungen beruht. Zwar ist das Materialdesign durch eine künftige Anwendungsperspektive motiviert; aber ein tiefes Verständnis der physikalischen und chemischen Zusammenhänge ist entscheidend, wenn wir unsere Vorhersagefähigkeiten verbessern wollen.

Faszinierende Supraleitung

Eine besonders interessante Materialklasse sind die Supraleiter. Diese Stoffe haben die Fähigkeit, elektrischen Strom perfekt durch ein Material zu leiten, wie ein reibungsloser Autoverkehr über eine ideale Stadtautobahn – ohne Verkehr, Fußgänger oder andere Störungen. Der Schlüssel zu dieser besonderen Fähigkeit liegt darin, dass sich die Elektronen in Supraleitern paarweise zusammenschließen, anstatt sich einzeln zu bewegen, wie es in Metallen und Halbleitern der Fall ist. Die technologischen Anwendungen sind potenziell umwälzend – von der verlustfreien Energieübertragung über tragbare medizinische Geräte mit geringem Stromverbrauch bis hin zu Quantencomputern.

Physiker sind seit der Entdeckung 1911 von der Supraleitung fasziniert. Seitdem versuchten sie, neue supraleitende Verbindungen zu identifizieren und mikroskopische Theorien zu entwickeln, die ihre Eigenschaften vollständig erfassen. In der Tat profitieren wir heute schon von vielen dieser Bemühungen: Supraleitende Verbindungen sind entscheidende Komponenten für medizinische Magnetresonanz-Tomographen, Magnetschwebebahnen, Fusionsreaktoren und Teilchenbeschleuniger, um nur einige zu nennen. Ein einschränkender Faktor für ihre Verwendung ist jedoch die niedrige Temperatur.

Immerhin: Nach der revolutionären Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleitung in Kupferoxidverbindungen, auch Kupratsupraleitung genannt, im Jahr 1986, hat sich der Rekord für die supraleitenden Temperaturen auf „nur“ -140° C erhöht. Das ist zwar immer noch recht kalt, liegt aber deutlich über der Temperatur von leicht zugänglichen Kryogenen wie flüssigem Stickstoff. Deshalb könnten, so die Hoffnung, Kuprate als Vorlage für die Entdeckung anderer Hochtemperatursupraleiter dienen. Eine lange gehegte Idee ist, dass Nickel, der Nachbar von Kupfer im Periodensystem, in ähnlicher atomarer Anordnung ebenfalls eine kupratähnliche Supraleitfähigkeit aufweisen könnte. Nach jahrzehntelangen experimentellen Bemühungen wurde diese Vorhersage im Jahr 2019 mit der Supraleitung auf Nickelatbasis endlich verwirklicht [1].

Mit kontrollierter Unordnung zum besseren Verständnis

Meine Minerva-Gruppe arbeitet am Verständnis grundlegender Fragen in dieser neuen Klasse von Nickeloxid- oder Nickelat-Supraleitern [2]. Dazu nutzen wir experimentelle Techniken, die Längenskalen vom Atomgitter bis zu makroskopischen Geräten abdecken.  Eine der größten Herausforderungen bei Nickelaten ist die Synthese qualitativ hochwertiger Proben: Viele Proben, auch tatsächlich supraleitende, können Bereiche mit sekundären chemischen Phasen – wie Parks in einer Stadtlandschaft – oder Fehler im Atomgitter – wie ungerade durch eine Stadt verlaufende Straßen – aufweisen.

Diese Verunreinigungen und Defekte können viele experimentelle Messungen stören. Daher ist es entscheidend für das wir Verständnis dieser Verbindungen, dass wir zuerst eine atomare Ansicht jeder Probe erstellen, etwa wie eine detaillierte Karte mit allen Alleen und Straßensperrungen. Um diese atomaren Anordnungen erfassen zu können, müssen wir hochspezialisierte Elektronenmikroskope einsetzen. In enger Zusammenarbeit mit unseren internationalen Partnern ermöglicht dies eine gemeinsame, kontinuierliche Verbesserung der Probensynthese, die nun einige der bisher reinsten supraleitenden Nickelate hervorbringt [3].

Entgegen der Intuition können uns bestimmte Arten von genau kontrollierter Unordnung – wie sogenannte Verkehrsleitkegel, auch Pylon genannt – dabei helfen, zwischen verschiedenen Arten von Supraleitern zu unterscheiden. Das gilt besonders für „konventionelle“ und „unkonventionelle“ Supraleiter. Erstere sind recht gut erforscht, bei letzteren aber sind die Details nach wie vor schwer zu verstehen. Wir stellen fest, dass das Einbringen von Defekten (Pylone) in hochwertige Nickelatproben die Supraleitung systematisch unterbricht (Abb. 1), was auf ihre unkonventionelle Natur hinweist. Eine Konsequenz daraus ist, dass die kritische Temperatur, unterhalb derer Supraleitung auftritt, näher an Raumtemperatur herangeführt werden kann, indem die Chemie der Nickelate angepasst wird.

Ganz allgemein hängen die Eigenschaften eines jeden Materials von den chemischen Bindungen zwischen den verschiedenen Atomen ab. Wichtige Erkenntnisse über die Details dieser Bindungen können durch energieempfindliche oder spektroskopische Messungen gewonnen werden. Sie helfen bei der Entwicklung theoretischer Modelle für neue Materialien [4, 5]. Meine Gruppe entwickelt auch neue spektroskopische Methoden. Damit untersuchen wir Nickelate auf lokalen Längenskalen, ähnlich wie bei der Unterscheidung einzelner Stadtteile innerhalb einer sich ausbreitenden Metropole. Vor allem wenn sich neue Materialien in einem frühen Stadium der Erforschung befinden, können diese lokalen Messungen entscheidend sein, um den Unterschied zwischen Leitungs-Autobahnen und Straßensperren zu erkennen.

Letztendlich hoffen wir, dass diese Einblicke in die grundlegende Physik von Nickelat-Supraleitern uns helfen können, Schlüsselparameter für die Stabilisierung der Supraleitung bei noch höheren Temperaturen zu entdecken. Dazu arbeiten wir eng mit globalen Experten für Materialtheorie und -synthese zusammen. Vielleicht führen sie eines Tages zu supraleitenden Technologien der nächsten Generation.

Literaturhinweise

Li, D.; Lee, K.; Wang, B. Y.; Osada, M.; Crossley, S.; Lee, H. R.; Cui, Y,; Hikita, Y.; Hwang H. Y.
Superconductivity in an infinite-layer nickelate
Nature 572, 592-593 (2019)
 
Wang, B. Y; Lee, K.; Goodge, B. H.
Experimental Progress in Superconducting Nickelates
Annual Reviews of Condensed Matter Physics 15, 305-324 (2024)
Lee, K.; Wang, B. Y.; Osada, M.; Goodge, B. H.; Wang, T. C.; Lee, Y,; Harvey, S.; Kim, W. J.; Yu, Y.; Murthy, C.; Raghu, S.; Kourkoutis, L. F.; Hwang, H. Y.
Linear-in-temperature resistivity for optimal superconducting (Nd,Sr)NiO2
 
Nature 619, 288-292 (2023)
Goodge, B. H.; Li, D.; Lee, K.; Kourkoutis, L. F.
Doping evolution of the Mott-Hubbard landscape in infinite-layer nickelates.
Proceedings of the National Academy of Sciences, 118(2), e2007683118 (2021)
Goodge, B. H.; Geisler, B.; Lee, K.; Osada, M.; Wang, B. Y.; Li, D.; Hwang H. Y.; Pentcheva, R.; Kourkoutis, L. F.
Reconstructing the polar interface of infinite-layer nickelate thin films
Nature Materials 22, 466-473 (2023)
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