Das Universum in einem Kristall

19. Juli 2017

In der Physik spielen Messgrößen wie Energie, Impuls oder elektrische Ladung, welche ihre Erscheinungsform zwar ändern können, aber niemals verloren gehen oder niemals aus dem Nichts entstehen, eine zentrale Rolle. Diese Messgrößen bestimmen, welche physikalischen Prozesse in unserem Universum möglich sind. In bestimmten Situationen jedoch, nämlich genau dann, wenn man von der klassischen Physik zu einer nicht-klassischen Betrachtung (Quantenmechanik) übergeht, sind diese Größen nicht mehr zwangsläufig erhalten. Man spricht dann von Quantenanomalien. Eine dieser Quantenanomalien, die z.B. zur Beschreibung von Neutronensternen von theoretischen Physikern angedacht wurde, aber noch nie experimentell nachgewiesen werden konnte, ist die Schwerkraft-Quantenanomalie: der Zusammenbruch eigentlich stets erhaltener Messgrößen – in diesem Fall der Energie und des Impulses – in gleichzeitig angelegten und parallel verlaufenden Magnet- und Schwerefeldern.

Forschern ist es nun erstmals gelungen, diese Quantenanomalie experimentell in Kristallen nachzuweisen. Dabei konnten sie eine große experimentelle Schwierigkeit umgehen: Ausreichend starke Schwerefelder zur Beobachtung der Schwerkraft-Quantenanomalie, und die damit einhergehende, von Einstein vorausgesagte Krümmung der Raumzeit, liegen zwar bei Neutronensternen oder in der Nähe Schwarzer Löchern vor, können aber nicht im Labor auf der Erde realisiert werden. Somit war die Messung der theoretisch vorausgesagten Schwerkraft-Quantenanomalie bisher unmöglich.

Wie das Forscherteam nun im Fachmagazin Nature berichtet, haben sie einen unerwarteten Ausweg aus diesem experimentellen Dilemma gefunden: In ihrem Experiment nutzten die Forscher erstmals die Erkenntnis, dass sich unter bestimmten Umständen in Kristallen ein Schwerefeld durch einen Temperaturunterschied nachahmen lässt. So können Messungen in Gravitationsfeldern nachgestellt werden, ohne dass dafür eine Krümmung der Raumzeit im Labor erzeugen werden müsste.

Neuartige Materialien – sogenannte Weyl-Halbmetalle - stellen für die Forscher eine ideale Messplattform dar. In diesen Materialien gibt es bestimmte Elektronen (Weyl-Fermionen), die aufgrund ihrer speziellen Eigenschaften für das Forscherteam beim Nachweis der Schwerkraft-Quantenanomalie von besonderem Interesse waren. Diese Elektronen haben, wie alle Elektronen in Kristallen, zwei verschiedene Drehrichtungen – so gibt es sowohl links- wie auch rechtsdrehende Elektronen. Eine Besonderheit dieser Materialien besteht darin, dass die Energie und der Impuls der Elektronen eines Drehsinns jeweils eine stets erhaltene Messgröße darstellen. So kann weder im linksdrehenden noch im rechtsdrehenden Elektronenreservoir Energie oder Impuls verloren oder hinzugewonnen werden – es sei denn es liegt eine Quantenanomalie vor.

Ein solches, neuartiges Material setzten die Forscher im Experiment einem Temperaturunterschied aus, der in gewöhnlichen elektrischen Leitern einen Stromfluss verursacht. In dem untersuchten speziellen Halbmetall-Material darf nun allerdings gerade kein Stromfluss zustande kommen, da dies Ausdruck der stets erhaltenen Energie und des stets erhaltenen Impulses der beiden Elektronenreservoirs ist. Als die Forscher zusätzlich noch einen Temperaturunterschied über den Kristall erzeugten und in gleicher Richtung ein Magnetfeld anlegten, beobachteten sie jedoch einen Stromfluss, der mit ansteigendem Magnetfeld weiter zunahm. Dieser resultiert daraus, dass die eigentlich stets bewahrte Energie und der stets bewahrte Impuls der Elektronen eines Drehsinns nun nicht mehr erhalten ist und linksdrehende Elektronen beispielweise mehr Energie und einen größeren Impuls haben als rechtdrehende Elektronen. Dieses werten die Forscher als ersten experimentellen Nachweis der Schwerkraft-Quantenanomalie.

Den Forschern ist es somit erstmals im Experiment gelungen, eine Quantenanomalie unter Beteiligung eines simulierten Schwerefeldes zu beobachten. „Rationales Design spielt in den Materialwissenschaften eine immer größere Rolle, topologische Materialien können nach klaren Kriterien ausgewählt und dann synthetisiert werden. Neben dem fundamentalen Verständnis sind wir hier am Max-Planck-Institut in der glücklichen Lage nahezu alle Materialien als Einkristalle herstellen zu können – das ist weltweit einmalig“, kommentiert Claudia Felser, Direktorin am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe. So seien die Ergebnisse dieser Studie relevant für z.B. Astrophysiker, um Prozesse im frühen Universum aufzuklären bis hin zu Teilchenphysikern um mögliche Teilchenzerfälle zu verifizieren.

Das Autorenteam besteht aus Dresdner Wissenschaftlern der Technischen Universität, des Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe und des IFW Dresden sowie aus Partnern vom IBM-Research Zürich, des Weizmann Institute of Science in Israel, der Berkeley Universität in Kalifornien und den Universitäten in Madrid und Hamburg. Im Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe stehen die Arbeiten unter der Leitung von Prof. Dr. Claudia Felser, die seit 2011 Direktorin des Fachbereichs Festkörperchemie ist.

CF / CPfS

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